Costantino Ciervo
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"FREE ALL" - 2013/2022 - Realisierung in Ptuj 2022 im Rahmen der 20. Ausgabe des Festivals ART Stays - Slowenien - 07. Juli - 18. September 2022
Kuratoren: Marika Vicari und Jernej Forbici
Eine temporäre Installation auf dem Hügel des Schlosses Ptuj (SLOWENIEN, die von Art Stays koproduziert wurde und einem Projekt gewidmet ist, das nie realisiert wurde. Es besteht aus einem monumentalen Schild im Hollywood-Stil und einem partizipativen Projekt, das ursprünglich (2013) fürr die Stadt Riace im Einklang mit der Aufnahme- und Inklusionspolitik des damaligen Bürgermeisters von Riace Domenico Lucano und seiner Verwaltung konzipiert wurde.
Materialien: lackierte Stahlbleche, Metallrohrgerüste, Gelenke, Scheinwerfer.
Maße: ca. 20 x 5 Meter

 

Das Kunstwerk „ FREE ALL", das im Rahmen des ART STAYS FESTIVAL (Ptuj, Slowenien) realisiert wurde, wurde vom Künstler selbst im Interview mit Livia Savorelli (Redaktionsleiterin der italienischen Zeitschrift für zeitgenössische Kunst „ESPOARTE“) beschrieben.

VOLLSTÄNDIGES INTERVIEW (auf italienisch) - (www.espoarte.)
Costantino Ciervo: FREE ALL, perché libertà è partecipazione.
Livia Savorelli - 4 Agosto 2022


hier ist das Interview ins Deutsche übersetzt:

Interview mit COSTANTINO CIERVO von Livia Savorelli


_Lieber Costantino, wir verdanken unsere Bekanntschaft ja dem Festival Art Stays, in der Ausgabe 2019. Lass uns einen Schritt zurückgehen, erzähl uns von dem Treffen mit Jernej Forbici und Marika Vicari und der anschließenden Einladung zu Art Stays damals. Welches Projekt hast du bei dieser Gelegenheit vorgestellt?

Jernej Forbici, Marika Vicari und ich haben uns bereits 2016 kennengelernt, also schon vor 2019. Wenn ich mich richtig erinnere, rief mich Jernej im Frühjahr 2016 an, um mir mitzuteilen, dass er mich zur 14. Ausgabe des Festival „Politc(s) Art Stay” einladen wollte.
In den folgenden Monaten einigten wir uns darauf, dass ich meinen Beitrag durch zwei Arten von Arbeiten leisten würde, die sich durch das verwendete Medium unterscheiden, sich aber in ihrem politischen Inhalt ergänzen: eine skulpturale Arbeit, eine große Acht-Kanal-Videoinstallation ("destroy linear time - tower") zum Thema des Verhältnisses zwischen Macht/Konsens/Diktatur und Revolution, die ich bereits 2011 geschaffen hatte, inspiriert durch einige eingehende Studien des Denkens von Niccoló Machiavelli.
Zum anderen eine Performance mit einem Sopran, einem Tenor, Statisten und Publikum mit dem Titel "nations and borders are boring", bei der es um die Beziehung zwischen Emigration/Freiheit/Partizipation ging. Die Aufführung wurde speziell für das Festival konzipiert.
Während der Vorbereitung der Arbeiten für das Festival hatte ich die Gelegenheit, Jernej Forbici und Marika Vicari aus nächster Nähe kennenzulernen. Ich war sofort beeindruckt von der enormen Energie, die sie besaßen, und von ihrer offenherzigen Geselligkeit. Durch die vielen Gespräche während der Tage unseres gemeinsamen Aufenthalts in Ptuj, zwischen dem einen und anderen technischen Problem, das während der Vorbereitung und des Aufbaus der Werke gelöst werden musste, erinnere ich mich gut daran, dass ich mich mit der Zeit immer mehr "zu Hause" fühlte, weil ihr kuratorischer Ansatz für das Festival und ihr kritisch-politischer Ansatz und die Art und Weise, wie sie arbeiten - sie sind auch ausgezeichnete Künstler - und Kunst präsentieren, mir sehr ähnlich und daher vertraut war.
Ich denke, dass aus dieser für beide Seiten sehr positiven Zusammenarbeit eine Beziehung gegenseitiger Wertschätzung entstanden ist, die dazu geführt hat, dass eine zweite Einladung an mich für die Ausgabe 2019 des Art Stays Festivals ausgesprochen wurde. Diesmal lautete das Thema bzw. der Titel des Festivals "Between Hell and Sky – Future". In diesem Titel sah ich persönlich eine klare Metapher: "Hölle" bedeutet "soziale Katastrophe"; "Himmel" bedeutet "Befreiung"; und schließlich kann man "Zukunft" als "Strategie des Kampfes" deuten. Da ich mich schon mein ganzes Leben lang mit diesen Themen beschäftigte war es für uns, für mich, Jernej und Marika, nicht sehr schwierig, gemeinsam bereits existierende neuere Werke zu finden, die zum Thema des Festivals passten. Es war nicht notwendig, neue zu schaffen. Wir haben uns damals entschieden, drei Arbeiten auszustellen: Videoskulpturen, die drei Jahre zuvor entstanden waren und deren gemeinsamer visueller und formaler Faktor der Himmel war. Die erste Arbeit, "Cloud", eine Fünf-Kanal-Videoarbeit, zeigte Luftballons, die von einem Schauspieler mittels eines Kompressors aufgeblasen wurden. Man konnte sehen, wie ein Buchstabe auf der Oberfläche der Ballons wuchs, während er an Volumen zunahm. Die so aneinandergereihten Buchstaben bilden klassische Fragewörter, die Journalisten/Investigatoren üblicherweise verwenden, um den Wahrheitsgehalt einer Tatsache festzustellen. Ich bezog mich auf die Worte "wo", "wann", "warum", "wie" und "was". Irgendwann explodierten die bis zum Maximum aufgeblasenen Ballons. Am Ende des Videos erschienen anstelle der Luftballons Symbole einiger berühmter "sozialer Netzwerke" - der Inbegriff des Plattformkapitalismus - vor dem Hintergrund eines blauen Himmels. Wie die Ballons, begannen auch die Symbole, sich „aufzublasen" und dann zu explodieren und sich in tausende farbige Kugeln zu atomisieren, um schließlich in der Weite des Himmels zu verschwinden. In dieser Arbeit wollte ich auf ironische Weise die "Katastrophe" der so genannten "Fake News" thematisieren, die als Pseudo-Austausch, Nicht-Kommunikation und unangemessene Ausnutzung von Daten, Informationen und der Arbeit anderer verstanden werden müssen.
Das zweite Werk, "Grave Corpis", zeigte auf einem Monitor, der auf einer alten Briefwaage angebracht war, eine im Wind sanft wehende Feder vor dem Hintergrund des Himmels. Die Feder sank mit extremer Leichtigkeit und Langsamkeit herab und dennoch zertrümmerte sie beim „Aufprall“ eine Glasscheibe, wodurch sich die Nadel der mechanischen Waage genau im Moment des Zerbrechens bewegte. Die Feder konnte dann frei durch den Himmel fliegen. Hier sind wir bei der zweiten Bedeutung der Metapher des "Himmels", der als Befreiung verstanden wird, d.h. als kathartischer Moment des Bruchs.
Die dritte Arbeit, "Weisse Rose", eine Dreikanal-Skulptur, zeigte eine Vielzahl von Flugblättern mit der Aufschrift "free them all" (befreit sie alle), die langsam vom Himmel herabfielen, bis sie auf einen massiven Steinboden prallten, der - paradoxerweise im Verhältnis zu ihrem Gewicht - von ihnen durchbrochen und vollständig zerstört wurde. Hier kommen wir zum dritten und letzten Teil der Metapher des Festivaltitels, nämlich einer möglichen zukünftigen Revolution, möglicherweise gewaltfrei, die in der Lage ist, die "Mauern" der etablierten Macht zu durchbrechen (Vereinigung ist Stärke) - fast eine Aufforderung, eine Strategie des kontinuierlichen und gemeinsamen politischen Kampfes zu verfolgen, die mit dem Konzept der Partizipation, der Freiheit und der substanziellen Demokratie verbunden ist - mit substanziell meine ich echte Demokratie und nicht nur auf dem Papier.


_Kommen wir zurück ins aktuelle Jahr mit der wichtigen 20. Jubiläumsausgabe des Festivals unter dem Titel POST-PRODUCTION, mit deiner von Art Stays koproduzierten Installation auf dem Hügel des Schlosses Ptuj, die einem nicht-realisierten Projekt gewidmet ist, das aus einer monumentalen Schrift im Hollywood-Stil und einem partizipatorischen Projekt besteht, das ursprünglich für die Stadt Riace konzipiert wurde und ganz im Einklang mit der Empfangs- und Inklusionspolitik des damaligen Bürgermeisters von Riace Domenico Lucano und seiner Verwaltung steht.

Das Kunstprojekt im öffentlichen Raum als monumentale Inschrift "Free All" hat für mich eine äußerst wichtige Bedeutung, weil es vielleicht mehr als andere Werke an zwei grundlegende Parameter meiner künstlerischen Forschung erinnert: Einerseits die menschlichen, mit Lebenserfahrungen verbundenen, die das Rückgrat meines Handelns darstellen. Auf der anderen Seite die theoretischen und idealen Ideen, die mir helfen, mir bewusst zu werden und meiner Art, Künstler zu sein und Kunst zu produzieren, Kraft und Legitimität verleihen. Die menschliche Seite, die Erfahrung, ist auf jeden Fall die wichtigere Seite, denn von dort kommen die Ideen und nicht umgekehrt. Im Jahr 2013 hatte ich in Riace die Gelegenheit, aus erster Hand zu sehen und zu erleben, was „Gemeingüter", Solidarität und Kreislaufwirtschaft bedeuten.
In einer kleinen Stadt Kalabriens wurde ein Prozess der Umgestaltung in die Tat umgesetzt, und zwar dessen was wir Kinder der Ideale der 1970er Jahre nach der Lektüre von Marx, Negri, Deleuze und anderen revolutionären Autoren in der Welt erreichen wollten, wenn auch mit viel Naivität und jugendlicher Vereinfachung. Und nicht nur das. Ich komme aus Neapel, bin in den Phlegräischen Feldern aufgewachsen, auf einem Vulkan, der einen schon früh lehrt, dass man größeren Kräften ausgeliefert ist, die viel mächtiger sind als das eigene Ego. Daraus entsteht die Religiosität, die einen dazu bringt, sich mit anderen zu verbinden, weil man weiß, dass das Leben allein nicht besser sein wird. Erinnern wir uns daran, dass "Religion" mit "legare" verwandt ist, das bedeutet binden. In Riace sah ich also nicht nur meine Theorien und Ideale in der Praxis erprobt, sondern ich konnte frei atmen, authentisch und direkt jene Religiosität der Solidarität wahrnehmen, die manche Brüderlichkeit nennen. Riace und seine Bürger sowie sein Bürgermeister Mimmo Lucano taten das, wozu das "christliche" und menschenrechtsorientierte Europa nicht in der Lage war: Sie nahmen Menschen auf, die vor Armut und Krieg flüchteten und schufen gleichzeitig Entwicklungsmöglichkeiten für ein Gebiet, das sich entvölkerte und unter dem Einfluss der Mafia stand.
Ich lernte Mimmo Lucano gut kennen. Keinem der mir bekannten Genossinnen und Genossen ist es direkt oder indirekt gelungen, in fünfzehn Jahren so viel für eine alternative Gesellschaft zu erreichen wie es ihm gelang. Offensichtlich ärgerte er sich eindeutig über ein nationales und europäisches wirtschaftliches und politisches System, das einzig auf Profit und Individualismus basiert. Meiner Meinung nach ist es kein Zufall, dass die etablierte Macht derzeit mittels eines Teils der Justiz versucht, einen Mann wie ihn mit verleumderischen Anschuldigungen moralisch zu diskreditieren, jemanden wie ihn, der 2016 von Papst Franziskus einen Brief des Dankes und der Bewunderung für seine Willkommenspolitik gegenüber Flüchtlingen erhalten hat und der vom Fortune-Magazin unter die 50 einflussreichsten Menschen der Welt gewählt wurde. Nach all dem scheint es mir dringender denn je, die monumentale Inschrift "FREE ALL" an einem öffentlichen Ort zu installieren, wenn auch außerhalb von Riace, denn diese Inschrift hat für mich zwei globale Bedeutungen: "Unschuld von und Freiheit für Mimmo Lucano", aber auch und vor allem: "Es gibt keine Freiheit ohne Solidarität zwischen allen Menschen" - Für Riace hätte ich gemeinsam mit Geflüchteten an der Errichtung der monumentalen Inschrift gearbeitet. Außerdem war geplant, jeden Geflüchteten als politischen Gefangenen zu fotografieren, auf einem Stuhl sitzend, mit der europäischen Flagge im Hintergrund, undein Schild mit der Aufschrift "FREE ALL" hochhaltend. In Ptuj war diese Art der Teilnahme aufgrund logistischer Probleme, die ich nicht lösen konnte, unmöglich. Der Schriftzug wird bei dieser Gelegenheit von einer Baufirma aufgestellt.


_ Wie fügt sich diese monumentale Installation mit dem Titel FREE ALL in das Thema des Festivals ein, wie entwickelt sie sich weiter und wie wird sie für Ptuj interpretiert? Auf welche Weise kann man auf kreativer Ebene ein "unrealisiertes Projekt" wieder in Angriff nehmen und ihm neue Intensität verleihen? Warum hast du visuell einen Schrifttyp gewählt, der an Schriftarten jüngeren Datums erinnert?

Dieses Projekt, das für Riace geboren wurde, ist ein Projekt, dessen Inhalt (Alle frei) per definitionem global ist und das sich somit nahtlos in den geografischen, historischen und kulturellen Kontext von Ptuj einfügt. Außerdem ist der politische Charakter, den das Festival traditionell über die Jahre hinweg hatte, die richtige Basis für diese Arbeit. Was die Schriftart betrifft, so wurde sie von den Kuratoren aus technischen Gründen gewählt, die mit dem Transport und der Herstellung der monumentalen Buchstaben zusammenhängen. Jernej und Marika haben mir natürlich das Design gezeigt, bevor die Entscheidung für diese Schriftart getroffen wurde. Für mich war es ästhetisch in Ordnung, da die Schrift klar und geradlinig ist und die richtige Größe hat. Eine Schrift, die den Betrachter nicht ablenkt, was passieren könnte, wenn man eine stilistisch zu aufwändige oder im umgekehrten Fall eine zu dürftige Schrift verwendet hätte.


_ FREE ALL (Alle befreien), mit zwei sich notwendigerweise ergänzenden Begriffen, ist eine Hymne an die Vielfältigkeit und nicht an die Einzigartigkeit. Du hast zu Recht einen Satz aus dem Lied La libertà von Giorgio Gaber zitiert, um den Begriff der Freiheit zu erklären: “La libertà non è il volo di un moscone, non è un'opinione, non è stare su un albero, non è uno spazio libero, ma è partecipazione” (Freiheit ist nicht der Flug einer Fliege, sie ist keine Meinung, sie bedeutet nicht auf einem Baum zu stehen, sie ist kein freier Raum, sondern sie ist Teilhabe). Wenn also Partizipation ein grundlegendes Element der Freiheitsausübung ist, ist Ausgrenzung dann das Gegenteil davon?

Natürlich ist die Freiheit ein Prozess, der sich in der Beteiligung verwirklicht. Ich möchte hinzufügen, dass der Kapitalismus meiner Meinung nach die totale Negation der Freiheit ist, denn in seinem Lebensmotor gibt es zwei strukturelle und historisch bedingte Faktoren, die zum Ausschluss der Meisten führen.
Auf der einen Seite haben wir die - ich wiederhole: historisch bedingte - Trennung zwischen Arbeit und Kapital und damit den Ausschluss der Arbeitskraft von der Verwaltung der Investitionen und der Aneignung des produzierten Reichtums; auf der anderen Seite haben wir das Problem des tendenziellen Rückgangs der Profitrate, der das System zu einer kontinuierlichen Intensivierung der Produktivität und damit zu einer immer stärkeren Aneignung des Lebens als Produktionsprozess zwingt, mit dem daraus resultierenden Verlust an schöpferischer freier Zeit, d. h. an jener Freizeit, die dazu dienen würde, dass man aktiv an Prozessen der Teilhabe am politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Leben der Gesellschaft sein kann.
Man erkennt, dass es in dieser Situation keine substanzielle Demokratie gibt und dass die viel gepriesene Freiheit die Freiheit der Wenigen und damit ein Mangel an Emanzipation ist. Um dies zu verstehen, muss man einfach sagen, dass es einen großen Unterschied zwischen der Freiheit eines reichen Menschen und der eines obdachlosen Menschen gibt. Freiheit hat viel mehr mit Quantität als mit Qualität zu tun!

_ Wie hast du für Art Stays das partizipative Potenzial von FREE ALL interpretiert?

Das Werk "FREE ALL" drückt ein Konzept aus. Es ist vor allem ein konzeptuelles Werk. Viele werden sich fragen, was zum Teufel hat das zu bedeuten?
Diejenigen, die die englische Sprache gut beherrschen, werden sich fragen: 'FREE ALL' von was... free everybody? Alle von was befreien? Ist es nicht gerade die Eigenschaft von Kunst, sich von propagandistischen Slogans und Werbeplakaten zu unterscheiden? Kunst vereinfacht nicht.
In diesem Fall besteht die Teilhabe darin, dass die monumentale Inschrift von allen gesehen wird und dass sich man sich beim Nachdenken fragen kann, was sie bedeuten könnte. Hier beginnt die partizipative Gestaltung von "FREE ALL": Nachdenken... Staunen.
Natürlich hätte ich mir gewünscht, dass Bürgerinnen und Bürger von Ptuj die Schrift errichten. Wie gesagt war 2013 für Riace ursprünglich geplant, dass die monumentale Inschrift von Geflüchteten errichtet werden sollte, aber für Ptuj haben wir uns den veränderten Umständen angepasst. Für mich funktioniert es so auch gut!

_ Unfreiheit ist ein historisches Phänomen, das sich im Laufe der Geschichte zyklisch wiederholt. Du bist jemand, der sich mit Macht- und Kontrollmechanismen in sozialen Systemen auseinandersetzt, welche "Befreiungsstrategien" prognostizierst du?

Um die Frage zu beantworten, muss ich zunächst einleitend erklären, was ich unter dem Begriff der Freiheit verstehe. Es mag seltsam klingen, aber für mich ist Freiheit Macht. Aber Vorsicht, sehr oft verwechseln wir die Bedeutung von Macht mit der von Herrschaft. Wenn die Macht den Wenigen gehört und folglich auf Kosten der Vielen geht, dann verkommt die Macht zur Herrschaft, d.h. zur fehlenden Emanzipation.
Wenn sich die Macht hingegen auf die Vielen erstreckt, dann bedeutet dies Partizipation, substantielle Demokratie. Ich glaube nicht, dass die Freiheit ein zyklisches Phänomen der Geschichte ist, in dem sie zunimmt und abnimmt oder aufgehoben wird, als wäre sie ein Wechselstrom. Vielmehr denke ich, dass sie verschiedene Bedeutungen annimmt, wie es zum Beispiel bei den Begriffen Familie, Liebe, Entfremdung und Verdinglichung der Fall ist. All dies sind Begriffe, die im Laufe der Geschichte je nach den bestehenden Produktionsverhältnissen, unterschiedliche Bedeutungen angenommen haben. Ich denke ganz einfach, dass wir - nach zweihundert Jahren Kapitalismus - eine derartige technologische und historisch wissenschaftliche Entwicklung erreicht haben, dass uns allen die Mittel zum Lebensunterhalt und vor allem die notwendige Freizeit garantiert werden können, die wir brauchen, um uns zu informieren und am aktiven Leben der Gesellschaft teilzunehmen, damit wir gemeinsam an einem Strang ziehen und die Welt, die wir aufbauen wollen, ERSCHAFFEN können. In Bezug auf die "Befreiungsstrategien": Ich bin seit vielen Jahren der Meinung, dass wir in den kommenden Jahren für ein bedingungsloses garantiertes Einkommen (zumindest auf europäischer Ebene) kämpfen müssen, um uns von der Sklaverei der Lohnarbeit zu befreien. Ich denke an die Abschaffung des (meines Erachtens keineswegs sakrosankten und unveräußerlichen) Rechts auf Privateigentum in der europäischen Verfassung, weil die Güter verwaltet und nicht besessen oder vererbt werden sollen. Ich denke dabei an die Abschaffung von Grenzen und Begrenzungen. Schließlich bin ich als Künstler davon überzeugt, dass die Kunst auch einen eigenen Beitrag leisten kann, mehr oder weniger, einfach weil ihrer Sprache die "Offenbarung" der Wahrhaftigkeit der Wirklichkeit innewohnt, ohne, wie Adorno es ausdrückte, die Anmaßung zu haben, Wahrheit zu sein. In diesem Sinne ist sie eine ausgezeichnete nicht-ideologische Quelle der Gegeninformation und der Stimulierung des Gewissens!