Versuch zu Costantino
Ciervo
von Olaf Mueller (2005)
... der Mensch verschwindet
wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand
1978
war Costantino Ciervo 17 Jahre alt und erlebte somit als Jugendlicher
hautnah die schweren Erschütterungen, denen der italienische Staat
Ende der siebziger Jahre, Anfang der Achtziger ausgesetzt war. Heute
spricht er davon, welches Glück er gehabt habe, während dieser
Zeit an einer Schule ausgebildet worden zu sein, in der ein solch fortschrittliches
Klima herrschte, dass Lehrer wie Schüler sich ständig in einem
ambitionierten Diskurs über die damalige politische wie ökonomische
Krise befanden, und dass ihnen keinerlei Denk- oder Redeverbote verordnet
worden waren.
Im selben Jahr führte der italienische Journalist Duccio Trombadori
eines der wichtigsten Interviews mit dem französischen Philosophen
Michel Foucault, der für Costantino Ciervo schon wenig später
eine prägende Rolle spielen sollte.
Foucault formulierte in diesem Gespräch, welche entscheidenden
Implikationen seine lebenslange Beschäftigung mit >Erfahrung<
für sein Werk hervorgebracht hatten. Erstens gäbe es keinen
kontinuierlichen und systematisch theoretischen Hintergrund, keine Methodik
zu seinem Werk, zweitens sei seine Arbeit zum allergrößten
Teil aus direkten persönlichen Erfahrungen erwachsen. Die Gedankenkette,
die ich hier nur verkürzt wiedergeben kann, abschließend,
wies Foucault darauf hin, dass es, auch wenn man von einer persönlich
transformierten >Grenzerfahrung< ausgehe, notwendig sei, die Tür
zu öffnen, für eine Transformation, eine Metamorphose, die
nicht einfach individuell ist, sondern einen Charakter annehmen muss,
der anderen zugänglich ist.
Auf der Suche nach einem Schlüssel zum Werk Costantino Ciervos
scheint mir gerade in dieser letzten Aussage Foucaults ein entscheidender
Hinweis enthalten zu sein.
Costantino Ciervo wurde 1961 in Neapel geboren. Bis 1980 besuchte er
die bereits erwähnte Ausbildungsstätte, die sich nicht nur
als Ort politischen Diskurses in Ciervos Biografie einschrieb, sondern
wo der Weg zum Abitur von vornherein an eine zusätzliche Ausbildung
in der Fachrichtung Elektronik gekoppelt war. Ein Umstand, der sich
als richtunggebend erweisen sollte. Andererseits fiel seine Jugend aber
eben in jene Epoche der italienischen Nachkriegsgeschichte, in welcher
der Staat vielfältigen Angriffen aus den politisch-extremistischen
Lagern ausgesetzt war. Man erinnert sich der Entführung und Ermordung
Aldo Moros, anderer Attentate der Roten Brigaden, des Bombenanschlags
von Bologna, der rechtsterroristischen Ursprungs war, und man weiß
inzwischen, dass rechte Gruppierungen den Plan eines Staatsstreiches
entworfen hatten, der sich vor allen Dingen mit dem Namen der Geheimloge
P2 verbindet, deren Existenz und Name allerdings erst Jahre später
ans Licht der Öffentlichkeit befördert wurde, seitdem aber
Synonym für die Verstrickung höchster politischer Kreise in
den Prozess der Unterminierung des demokratischen Fundaments, für
die Morbidität des institutionellen Systems Italiens ist. Dieser
Staatsnotstand hat tiefe Spuren in der italienischen Gesellschaft hinterlassen,
zumal nach wie vor bis heute viele Verantwortlichkeiten im Dunkeln liegen.
Sie stellte trotzdem aber nur einen Ausschnitt der umfassenderen Krise
dar, welche die westliche Welt in Folge des Vietnamkrieges, einer ersten
leichten Entspannung zwischen Ost und West, eurokommunistischen Visionen
und, man könnte fast sagen, dem Einläuten dessen, was jetzt
Globalisierung genannt wird, erfasst hatte. (Man denke in Deutschland
an die RAF)
Diese Naherfahrung hatte Costantino Ciervo letztlich veranlasst, nach
dem Abitur ein Studium der politischen Ökonomie an der Universität
von Neapel aufzunehmen. Doch schon zwei Jahre später brach er das
Studium ab, um sich eine Existenz als freier Künstler aufzubauen.
Er verschrieb sich einer Malerei, die in der Spätmoderne, einem
abstrakten Expressionismus wurzelte, der durch verschiedene Verwandlungen
hindurch viele Jahre sein Arbeitsmittelpunkt blieb. 1984 siedelte er
nach Deutschland über und nahm in Westberlin seinen Wohn- und Arbeitssitz.
Dort immatrikulierte er sich 1988 auch für sein zweites Studium
der Philosophie und Kunstgeschichte. Wieder schien eine Parallele zwischen
der Beschäftigung in einem theoretischen Feld und den Bezügen
zu seiner künstlerischen Entwicklung evident. Denn Ende der achtziger
Jahre wendete sich Ciervo gewissermaßen folgerichtig von der "klassischen"
Malerei, der Zweidimensionalität ab und begann, den drei- oder
mehrdimensionalen Kosmos seiner Installationen, Objekte und grafisch-literarischen
Tableaus, seiner Zeichnungen zu entwerfen. Damit sah sich Costantino
Ciervo endlich in die Lage versetzt, seinem eigenen philosophischen
Gebäude ein Anderes gegenüberzustellen, das man grob vereinfacht
als die Metaphysik seiner Kunst bezeichnen könnte. Offenbar wurde
in diesem Prozess eine enge geistige Verwandtschaft zu den Grundfigurationen
des Poststrukturalismus eines Lyotard, der forderte, ein Künstler
müsse in der heutigen Zeit unbedingt auch Philosoph sein, eines
Foucault, eines Baudrillard oder Derrida. Immer wieder weisen auch die
Kommentatoren seines Werkes auf diesen theoretischen Unterbau hin. Wesentliche
Forderungen der poststrukturalistischen Debatte finden sich in Costantino
Ciervos Arbeiten in unterschiedlicher Ausformung und Transformation
aufgehoben: Die kritische Untersuchung und der Einspruch gegen totalisierende
Tendenzen in der Philosophie wie in der Gesellschaft, die kritische
Selbstreflektion der Modernde, wie der modernen Gesellschaft, die Kritik
des Logozentrismus, die Forderung nach dem Anderen, das nicht durch
die Sprache, auch nicht durch die Sprache der Kunst geleistet werden
kann, wie die radikale Dezentrierung des modernen Subjektbegriffes.
Foucault beendet sein Hauptwerk "Die Ordnung der Dinge" mit
den Worten: "...der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht
im Sand".
Costantino Ciervo hat seine Arbeiten an jenes Meeresufer gebracht und
das Meeresufer in diese Exposition.
Michaela
Nolte beschrieb 1997 Costantino Ciervos Rauminstallation "Senza
Titolo", seinen Beitrag zur Biennale in Venedig 1993, als eine
noch ganz im Zeichen formallogischer und ästhetischer Konzeption
und Forschung stehende Arbeit (64 metallene Assemblageteile, 64 Objektive
mit 64 TTL-Siebensegmentanzeigen, Elektrodrähte; siehe auch Interview).
Der Zugang zu leicht entschlüsselbaren Informationen wurde von
Costantino Ciervo vorsätzlich verhindert, sollte Intensität
in der Beschäftigung mit Ciervos Arbeit provozieren, war aber schließlich
nur Zwischenstation. Die unweigerlich mit einer solchen Versuchsanordnung
einhergehende Hermetik vor dem Rezipienten, die gleichzeitig natürlich
auch ein Ausgangspunkt und Bedingung der Installation war, brach Costantino
Ciervo in den folgenden Jahren zunehmend auf. Dieser Prozess, der bis
in die Gegenwart andauert und über verschiedene Stufen verlief,
zeigt deutlich, wie sich Costantino Ciervo zunehmend inhaltliche Ebenen
erschließt, um sich direkter in den gesellschaftlichen Diskurs
einzumischen. Man erinnere sich an die dritte Implikation in der Aussage
Foucaults! Obwohl Ciervo sich der Archive kunstgeschichtlicher Traditionen
bedient, auch von dort aus Transformationen in sein Werk vornimmt, die
artistische Sukzession als integralen Bestandteil des Werkes versteht,
und er außerdem scheinbar überwundene formale Positionen
aus seinen eigenen Beständen reaktiviert und nutzbar macht, ist
Costantino Ciervo 2005 so intensiv mit den Prozessen der Gegenwart befasst,
so nahe daran, wie wahrscheinlich nie zuvor. Michaela Nolte bezeichnete
ihn als Chronisten seiner Zeit. Ich würde dem zustimmen, aber darüber
hinaus sind die aktuellen Ensembles von einem visionären Duktus
durchdrungen, der weit mehr als nur die Gegenwart in den Blick nimmt,
welcher eschatologische Fragen aufwirft, die in der Philosophie die
ersten Fragen gewesen sind. Wobei letzte Antworten selbstverständlich
ausstehen müssen. Aber mit Immanuel Kant gefragt: Was kann ich
wissen? Was soll ich wissen? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?
Costantino Ciervo
lässt uns einen Blick auf den Strand von Rantum und in die Zukunft
werfen. Das Objekt "Replaceably"
zeigt auf zwei großformatigen Fotomontagen eine "schöne",
junge Frau und einen "schönen", jungen Mann, die sich
im Endstadium der Verpuppung und Versteinerung befinden, wobei der mythologische
Stein ganz gegenwärtig durch ein Überzug aus Kunststoff ersetzt
wird. Die abschließende Metamorphose steht ihnen bevor, wird mit
ihnen im Augenblick vollzogen. Sie scheinen sich damit abgefunden zu
haben, in den irreversiblen Zustand überzugehen. Zwischen beiden
Portraits schwingt ein Pendel, dass uns anzeigt, die Zeit ist abgelaufen.
Der Sand der Sanduhr ist im unteren Behälter angekommen. Es fließt
nichts nach. Das Foucaultsche Pendel beweist die Rotation der Erde,
die Bewegung der Welt, die untrennbar an das Verrinnen der Zeit gekoppelt
ist. Den Verursacher der "Versteinerung" lässt Costantino
Ciervo zwar im Dunkeln, wenn man sich aber seiner mythologischen Bezüge
vergewissert, bleibt eine mögliche Interpretation. Wir selbst sind
die Verursacher. Hinter dem maskenhaften Angesicht der Medusa versteckt,
sind wir es, die zu fürchten sind, und jeder muss versteinern,
den unser Blick ungeschützt trifft. Als Perseus der Medusa, der
einzig Sterblichen unter den Gorgonen, den Kopf abschlug, entsprang
ihr unter anderem das Ross Pegasos. Ein letzter Trost in einer strahlenden
Zukunft, einer schönen, neuen Welt: post mortem.
Als
komplementär zu "Replacably" müssen die beiden Objekte
"Intervall F" und "Intervall M" angesehen werden.
In gläserne Boxen verbannt, wehen Fahnen mit den Köpfen eines
Mannes und einer Frau in den wiederum vor der Welt hermetisch abgeschlossenen
Winden. Von einem Pol zum anderen geweht, scheint sich dort das höllische
Spiel mit der Erinnerung an jene Menschen zu vollziehen, welche einmal
zu den schwarzweiß portraitierten Köpfen gehörten, den
Persönlichkeiten, die sie ehemals ausgemacht hatten. Costantino
Ciervo lässt den Betrachter diese Erinnerung als den Topos erfahren,
der letzten Endes durch jene Energien gelenkt wird, auf die wir keinen
Einfluss mehr haben. Und dieser Erfahrung ist nicht zu entkommen.
Möglicherweise
unterbricht der Fortgang dieses Textes die innere Chronologie dieser
Ausstellung, deren einzelne Bestandteile auf vielfältige Wiese
miteinander korrespondieren. Aber um zu den Überlegungen über
die vier Stelen: "sunset/sunrise", "Aggression/Regression",
"alphabetically" und "enter" zu gelangen, muss ich
kurz über ein Exponat sprechen, das Costantino Ciervo vor zwei
Jahren vorgestellt hat. Es handelt sich dabei um die Installation "Empire",
die wie die vier Stelen mit dem Grundelement der mechanischen Schreibmaschine
arbeitet, in deren Innern sich Mikrocontroller, Prozessoren befinden,
welche die Aktionen in Gang setzen. Während bei "Empire"
noch mit Raum und Publikum interagiert wird, ein Großraumbüro
wurde nachempfunden (9 Tische, 9 Stühle, 9 Schreibmaschinen), politische
Reden sind zu hören, über den Schreibmaschinen befestigte
durchsichtige Kugeln rotieren und mischen wie in einer Lostrommel ihren
Inhalt aus zerschnittenen Akten und Landkarten immer wieder neu, stehen
die Stelen, auf die jeweils eine modifizierte Schreibmaschine montiert
ist, für einen neuen, nicht direkt interaktiven, sondern eher der
Gegenwart entrückten und gerade deshalb bewussteren philosophischen
Ansatz. "Empire" lenkte die Aufmerksamkeit noch auf jene Orte,
an denen etwa in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts die
massenhafte Datenverarbeitung inklusive der Systemvernetzung gewissermaßen
auf eine neue Weise begann, und bisher unbekannte globale Machtmechanismen
vorinstalliert wurden. Was bei "Empire" in der Metapher noch
vordergründig und offenkundig schien, wird von Costantino Ciervo
in den Stelenobjekten in den eigentlichen Zustand der Unsichtbarkeit
zurückgeführt. Ich würde von einer radikalen Poesie sprechen,
die Ciervo ins Spiel bringt, wobei deren Wurzeln in der Erkenntnis ankern,
dass einer in der "Humanitas" liegende Saat in der Gegenwart
die notwendigen Bedingungen geschaffen werden, um aufzugehen. Während
diese Bedingungen in extensio verschleiert werden, führen die Kreatoren
der Gegenwart dem Rezipienten Trugbilder vor. Costantino Ciervo bedient
sich zwar der gleichen Werkzeuge und erzeugt aber dennoch, nachdem sie
durch ihn transformiert wurden, ein Ergebnis, das ich als das Andere
bezeichnen würde, das auf die wahrhaft kreative Rezeption nicht
verzichten kann. Er schafft Visionen, die der Interpretation bedürfen,
an denen, wie Ludwig Hohl sagen würde, wirkliche Arbeit geleistet
werden muss, die ihren Niederschlag dann aber notwendigerweise und folgerichtig
außerhalb der Kunst finden werden.
Der Anspruch Ciervos in diesem Sinne ist so kolossal wie er dem Schicksal
der Humanitas verbunden ist.
Das Großraumbüro wurde aufgelöst, die Maschinen, die
Computer stehen am Strand unter freiem Himmel, Leitungen verlaufen ins
Inselinnere, wo sie irgendwo im Boden verschwinden. Noch flaniert ab
und zu ein Mensch vorbei und hinterlässt die Fußspur im Sand,
kommt und geht zurück oder kommt und kommt nicht vorwärts.
Längst haben sich die vom Menschen initiierten Entwicklungen von
ihm selbst abgekoppelt und sehen sich nun in Opposition zur Natur, die
anderen, eigenen Gesetzen folgt. Diese in Frage zu stellen, dem alttestamentarischen
Gebot zu folgen, der Mensch solle sich die Erde untertan machen, scheint
die Ursünde. Denn die Natur schlägt gewaltig zurück,
den Möwen ist so wenig beizukommen wie Ebbe und Flut, die Natur
täuscht grandios, kennt sich besser aus in dem, was von uns so
leicht Leben genannt wird. Es lohnt sich, sich selbst zu befragen, während
man sich länger als nur den Augenblick, in dem die Wahrnehmung
stattfindet, der Poetik der Objekte überlässt. Costantino
Ciervo ist imstande die Neigung zu voreiliger Interpretation zu konterkarieren
und den Betrachter nachhaltig in Anspruch zu nehmen.
Ludwig Wittgenstein schrieb 1916:
> Ich weiß, dass diese Welt ist.
Dass ich in ihr stehe wie mein Auge in seinem Gesichtsfeld.
Dass etwas an ihr problematisch ist, was wir ihren Sinn nennen.
Dass dieser Sinn nicht in ihr liegt, sondern außer ihr.
Dass das Leben die Welt ist.
Dass mein Wille die Welt durchdringt.
Dass mein Wille gut oder böse ist.
Dass also Gut und Böse mit dem Sinn der Welt irgendwie zusammenhängt.
(...)
Was ist das objektive Merkmal des glücklichen, harmonischen Lebens?
Da ist es wieder klar, dass es kein solches Merkmal, das sich beschreiben
ließe, geben kann.
Dies Merkmal kann kein physisches, sondern nur ein metaphysisches, transcendentes
sein.
Die Ethik ist transcendent. <
Ein Versuch über
Costanino Ciervos Kunst bliebe unvollständig, ginge man nicht auf
die grafische Arbeit ein, die der installatorischen vorausgeht und sie
begleitet. Im Kunst-Raum Syltquelle zeigt Costantino Ciervo Zeichnungen
und Collagen, die seine Arbeiten und den Prozess, der bis zu ihnen geführt
hat, vervollständigen. Auf den Blättern finden sich die Textbausteine
seiner eigenen Vergewisserung, genauso wie Verweise auf etwaige mythologische
Hintergründe und Impulse. Der bildende Künstler Ciervo lässt
den Betrachter an seinen Gedankenspielen teil haben und führt mindestens
in Ausschnitten auch den begrifflichen Kanon vor, aus dem er die Installationen
und Objekte entwickelt. Von der Illustration tagespolitischer Themen
bis beinahe zum Bilderrätsel reicht das Spektrum dieser Blätter,
die den Zugang und die kontextuelle Einordnung erleichtern können.
Andererseits erkennen wir den meisterhaften Zeichner und Grafiker, der
mit der Hinterlassenschaft der Kunstgeschichte souverän hantiert.
Ohne diesen wäre auch der und das Andere nicht denkbar.
Olaf Müller,
Berlin den 23. Oktober 2005
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