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FREE ALL, 2013
Temporäre Installation im öffentlichen Raum in Riace (Italien)/
partizipatorisches Kunstprojekt (work in Progress)
Porträtfotografien von Beteiligten des Kunstprojektes vor der Europaflagge - Costantino Ciervo und flüchtling - Rechts Bürgermeister von Riace (2014-2018)
Installation: 7 Holzbuchstaben, weiß lackiert, Metallgerüst
Fotoserie: Porträtfotografien von Beteiligten des Kunstprojektes vor der Europaflagge
Interview von Manuela Lintl mit Costantino Ciervo in Bezug auf das Projekt FREE ALL von Riace (Kalabrien - Italien), Berlin 2013
Manuela Lintl (ML): Was bedeutet die Aufforderung FREE ALL (Befreit alle/s)?
Costantino Ciervo (CC): Wenn man den Sinn des Satzes zunächst einmal mit einer Methode der Abstraktion analysiert, bemerkt man, dass die Bedeutung des Verbes mit dem Konzept der Qualität zu tun hat und die des Pronomens mit der Quantität. Man könnte auch behaupten, dass sich beide Termini zwangsläufig komplementär verhalten.
Speziell im Falle des Freiheitsbegriffes bedeutet das, Freiheit hätte keine semantische Bedeutung, wenn sie nicht für alle gilt: ein nur teilweise freier Mensch ist nicht autonom, genauso wie eine Gemeinschaft - egal ob sie groß oder klein, einfach oder komplex ist, keine emanzipierte Gesellschaft sein kann, solange nur ein Teil von ihr frei ist. Freiheit, Autonomie, Emanzipation, Unabhängigkeit sind untrennbare Begriffe.
Die Freiheit ist also einer der Fälle des Lebens, in dem die absolute Qualität nicht mit der Eigenschaft der Einzigartigkeit korrespondiert, sondern mit der der Mannigfaltigkeit.
Die Freiheit gleicht nicht einem Edelstein, der sich zwischen allen gewöhnlichen Steinen verbirgt, vielmehr ist sie die Gesamtheit aller gewöhnlichen Steine, die den Edelstein verdecken.
Giorgio Gaber, ein engagierter Liedermacher mit großer intellektueller Scharfsinnigkeit, der 2003 verstorben ist, hat das Konzept der Freiheit vielsagend und effektiv zusammengefasst und behauptet in seinem Song "La Libertà" von 1992: "La libertà non è il volo di un moscone, non è un'opinione, non è stare su un albero, non è uno spazio libero, ma è partecipazione". (Freiheit ist nicht der Flug einer Schmeißfliege, ist nicht eine Meinung, bedeutet nicht auf einem Baum zu sein, ist nicht ein freier Raum, sondern Beteiligung.)
Beteiligung ist die Implementierung der Quantität. Die Beteiligung ist die Quantität, die sich in operierende Demokratie umwandelt. Beteiligung ist substanziell die Apostasie von der aristokratischen und faschistoiden Einzigartigkeit.
Aber wenn die Beteiligung (und ich füge hinzu von allen) eine Voraussetzung ist für die Umsetzung der Freiheit, dann stellt der Ausschluss logischer- oder konsequenterweise das Gegenteil dar.
ML: Aber wer sind die Ausgeschlossenen, diejenigen die nicht frei sind?
CC: Wenn man - zur Vereinfachung der Argumentation - die psychoanalytische Annäherungsweise (ein materiell reiches Individuum kann beispielsweise unter einem Komplex leiden der ihn oder sie von der Glückseligkeit ausschließt) einmal außer Acht lässt, könnte man antworten, dass mehr oder weniger alle passiven Subjekte der Gesellschaft, die sich in der Lage befinden, nicht wählen zu können, betroffen sind. Hier einige Beispiele:
Ausgeschlossen sind jene, die nicht die eigene Arbeit lieben, der sie aus existenziellen Gründen gezwungen sind nachzugehen; ausgeschlossen sind diejenigen, die keine Arbeit haben, sie aus existenziellen Gründen brauchen aber nicht bekommen; ausgeschlossen sind alle Minderheiten, die von der Mehrheit respektiert werden sollten aber es nicht sind; ausgeschlossen sind alle Inhaftierten die im Gefängnis sitzen und dort nicht sein sollten und wenn sie dort sind, in die Gesellschaft integriert sein sollten aber es nicht sind; ausgeschlossen sind die Armen, die ein Recht auf ein würdiges Leben besitzen es aber nicht führen; ausgeschlossen sind alle Immigranten die aufgenommen werden sollten aber nicht empfangen werden - die Liste ist lang.
ML: Hier stellt sich die Frage worin liegt die grundsätzliche Ursache für den Mangel an Freiheit, wer hat Schuld daran? Ist es die unvermeidliche Natur der Dinge oder ist es ein historischer Prozess, der sich entwickeln kann?
CC: Wenn die Antwort causa sui wäre, also Selbstursache (nicht verursacht von anderen), was hätten im Laufe der Geschichte die Sklaverei, die Aristokratie, die Diktatur, die Monarchie, die Republik, die Demokratie für einen Sinn gehabt? All das, um anthropologisch nichts zu verändern? Vielleicht, aber ehrlich gesagt scheint es mir nicht so zu sein. Offensichtlich, unterscheidet sich - um ein Beispiel anzuführen - die heutige emanzipatorische Stufe einer Frau in Europa im Vergleich zur Situation vor zweihundert Jahren (wenn auch weiterhin Machismus existiert und die Emanzipation nicht vollendet ist, besonders in Südeuropa).
In jedem historischen Prozess existieren Machtverhältnisse, innerhalb derer sich, einem Tropfen Tinte im Wasser gleich, ein Mechanismus diffuser Angst ausbreitet und das Ziel hat, die Privilegien derjenigen, die Macht haben zu wählen, zu bewahren.
Dieser Mechanismus permanenter Unsicherheit dringt überall ein und ist transversal. Auf diese Art gelingt es dem Mechanismus, sich auch diejenigen einzuverleiben, die sich politisch auf der Seite der Ausgeschlossenen positionieren. Auf diese Art wird das revolutionäre Potenzial blockiert, das die große Quantität der Ausgeschlossenen in die Tat umsetzen könnte. Jeder hat Angst vor Veränderung des status quo. Jeder sieht in der Veränderung eine Utopie und eine Bedrohung für die eigene Existenz, auch wenn sie prekär ist. Jedes Mal in der Geschichte, wenn der Mechanismus der Angst durchbrochen wurde, gab es eine Veränderung, oft begleitet von einem erbitterten Kampf zwischen Alt und Neu.
In den letzten Jahren habe ich mit einer Art von Test experimentiert, ein casting out nines , eine Neunerprobe zur Überprüfung der wahren Ansichten über die Freiheit und den Absichten in Bezug auf sie. Dafür habe ich die symbolische Figur schlechthin für alle Ausgeschlossenen im Zeitalter der Globalisierung benutzt: den Einwanderer.
Leute die sich selbst als fortschrittlich definieren und mit denen ich Gelegenheit hatte mich zu unterhalten habe ich gefragt, ob sie einverstanden wären mit der radikalen Auflösung aller nationalstaatlichen Grenzen und der freien Aufenthaltsmöglichkeit für jeden Menschen.
Die Antwort fiel entweder negativ aus oder, wenn sie bejaht wurde, immer in Verbindung mit einem "aber".
"Ja, aber man muss den Migrationsfluss kontrollieren." Oder: "Ja, aber nicht die Zigeuner." Oder: "Ja, aber keine Moslems." Oder. "Ja, aber das funktioniert nicht, weil es nicht genug Arbeit für alle gibt." Und so weiter. Es scheint so zu sein, dass die Freiheit ein unantastbarer Grundwert ist, mit dem alle einverstanden sein wollen, faktisch ist aber fast keiner couragiert genug oder bereit dazu, sich in dessen Sinn konsequent zu verhalten.
ML: Somit scheint das Problem der Freiheit in erster Linie ein Problem der Befreiung von Ängsten zu sein. Mit welchen Mitteln kann man die Ängste aufheben?
CC: Im Bereich psychologischer Therapien kann man Phobien mittels Konfrontationen behandeln und wenn die Freiheit so viel Angst hervorruft, warum sollte man sie dann nicht in ihrer ganzen symbolischen Kraft zeigen? Die Mittel hierzu sind sicher verschieden. Ich habe ein visuelles/plastisches Medium ausgewählt, denn ich bin ein Künstler und meine Sprache ist die Ästhetik als Sprache die per definitionem nicht dogmatisch ist.
Meine Idee ist, den Schriftzug FREE ALL in monumentaler Größe (ca. H 5 m x B 32 m) im Stil des Hollywood Sign in den landschaftlich kargen und unbesiedelten "dune di argilla di Riace", den Dünen aus Ton von Riace, einem symbolischen Ort der Gastfreundschaft und Interaktion (nicht Integration, was etwas anderes bedeutet) zwischen den verschiedenen Kulturen.ML: Warum Riace und nicht Mailand, auch eine Stadt mit hohem Ausländeranteil?
CC: Riaces Bürgermeister Domenico Lucano und seine Stadtverwaltung stellen eine einzigartige Realität in Europa dar, wo anstelle von Angst gegenüber Fremden eine virtuose Politik der Interaktion und Gastfreundschaft wirken. Ein multi-ethnisches Projekt, das Vitalität an diesen Ort zurückgebracht hat. Einheimische und Flüchtling sind gleichberechtigte Protagonisten innerhalb des örtlichen kulturellen und wirtschaftlichen Lebens.
Riace ist aufgrund seiner geografischen Lage in unmittelbarer Nähe zu Nordafrika eines der Haupttore nach Europa. Riace besitzt eine große Tradition der Gastfreundschaft: einmal im Jahr treffen sich hier gläubige Sinti und Roma aus Kalabrien, um gemeinsam mit den Dorfbewohnern den Heiligen Cosma und Damiano zusammen mit dem Seeligen Beato Zeffirino als Schutzpatronen Ehre zu bezeugen. Riace liegt zudem in einer archaischen, intakten Dünenlandschaft, die sich sehr gut eignet zur Reflexion und Interaktion in Bezug auf ein so profundes Thema wie das der Freiheit.ML: Werden die Flüchtlinge bei dieser Kunstaktion nicht benutzt oder könnten sich benutzt fühlen?
CC: Die sogenannten Flüchtlinge aus außereuropäischen Regionen und die Bewohner Riaces werden gemeinsam aktiv an dem Projekt teilnehmen. Unter der fachkundigen Anleitung des ortsansässigen Maurermeisters werden alle zusammen Gerüst und Schriftzug bauen und installieren und für ihre Arbeit angemessen entlohnt. Löhne und Materialkosten sollen durch von mir akquirierte Spenden oder Fördergelder bezahlt werden.
Die Errichtung des temporären Kunstwerkes wird eine Art Fest sein, das ich mit Video und Fotografien dokumentieren werde. Ich habe auch berücksichtigt, dass Riace insbesondere vom sogenannten agriturismo lebt (Anm. d. Ü: Ferien auf dem Bauernhof oder in Häusern in ländlichen Strukturen in Italien). Es ist also beabsichtigt, für diesen wunderbaren Ferienort auf geeignete Art und Weise, auch durch weitere Ausstellungen und Diskussionen zu werben.
Um unsere Form des Protests gegen die herrschende italienische und europäische Flüchtlingspolitik noch deutlicher zum Ausdruck zu bringen, werden außerdem inszenierte Fotos von Beteiligten des Projektes gemacht, Einzelporträts vor der europäischen Fahne mit dem Kreis aus 12 Sternen, auf denen jede/r ein Blatt in der Hand hält mit der Aufschrift FREE ALL.ML: Das erinnert ikonografisch an Fotos, die die deutsche R.A.F (Rote Armee Fraktion) oder die Roten Brigaden (Brigate Rosse) in Italien von Entführten, sogenannten "Volksgefangenen" ("prigionieri del popolo") gemacht haben. Ist das nicht übertrieben?
CC: Nein, denn die Typologien der Gefangenschaft und der terroristischen Abschreckung sind mehr denn je vorhanden, wenn auch in anderer Form und aus anderen Gründen.ML: Warum wird ausgerechnet die formale Ästhetik des HOLLYWOOD Schriftzuges adaptiert?
ML: Auch Maurizio Cattelan und Monica Bonvicini haben 2001 bzw. seit 2006 mit überdimensionaler Schrift gearbeitet. Ist FREE ALL eine Wiederholung?
CC: Hollywood ist ein Zentrum Professioneller, die ihr ganzes Können und Wissen einsetzen, um Träume/Realität zu produzieren. Für sie ist besonders die Maximierung des spektakulären visuellen Einschlages des Bildes auf der Netzhaut des menschlichen Auges wichtig.
Der berühmte Schriftzug in Kalifornien, inzwischen das Wahrzeichen Hollywoods, spiegelt diese Philosophie. Die Dimension des Schriftzuges wird an die geografischen Gegebenheiten der süditalienischen Dünenlandschaft angepasst und die weiße Farbe der Buchstaben ist auch hier ein perfekter Kontrast zu Boden und Himmel.
CC: Ich denke nicht, dass es eine Wiederholung ist, weil ich mit anderen Inhalten operiere. Cattelan ironisiert auf sarkastische Art Stereotypen der Wahrheit, ohne wirklich weiter zu gehen, während Bonvicinis Interesse dem Machismus und dessen sexueller Komponente gilt, die im architektonischen Raum transparent wird. Meine Themen reflektieren Mechanismen der Macht und Kontrolle innerhalb sozialer Systeme in ihrer Gesamtheit und Komplexität und in der letzten Zeit die daraus resultierenden Strategien der Befreiung. Meiner Meinung nach ist, was die Künstler (bekannt oder nicht) produzieren, faktisch immer eine synergetische Arbeit die der Kultur gut tut.
Seit Walter Benjamin (1930er Jahre) haben die "Einzigartigkeit des Kunstwerkes" und seine vermeintliche "Aura" keinen Sinn mehr, angesichts der Tatsache, dass wir seit über einhundert Jahren im Zeitalter der Technologien und "Reproduzierbarkeit" leben.
Außerdem habe ich oft Schrift angewendet, in Videoarbeiten bereits 1992 und monumental/skulptural erstmals 1994. In Zusammenarbeit mit Ottmar Kiefer wurde auf der Dachterrasse der Villa Malaparte auf Capri als brisante temporäre Intervention der Schriftzug "VENDESI" (For Sale) realisiert. 1996 entstand die Arbeit "IL terzo escluso" in der Apsis der Kirche S. Martino di Lupari in der Nähe von Venedig und im gleichen Jahr auch die Außeninstallation "Totalitarian or Authoritarian" an der Außenfassade des Hochbunkers in der Reinhardstraße in Berlin-Mitte.