Costantino Ciervo

Film
MIMMO LUCANO – USED TO PULLING – NOT PUSHING BACK (2022/23, ital./engl. UT, 72’)

Berlin - RIACE - 2022/2023, Poesie auf See: Marco Mantello, Poesie auf Papier: Erri De Luca
Regie: Costantino Ciervo

 

Berlin 19.04.2023
Der Film ist ein politischer und persönlicher Beitrag zum Thema Migration und Asyl, in dessen Mittelpunkt Mimmo Lucano, der ehemalige Bürgermeister der Gemeinde Riace, steht. Das Integrationsmodell von Riace wurde in seinen Anfangsjahren als ein begrenztes territoriales Phänomen betrachtet und stand daher nicht im Fokus der restriktiven italienischen und europäischen Einwanderungspolitik. Ab 2015 erfuhr Riace dann eine wachsende internationale Aufmerksamkeit, da es als ein effektives System zur Integration von Geflüchteten und Migrant/innen angesehen wurde, das nachgeahmt und importiert werden konnte und sollte. Im Jahr 2017 erhob die italienische Justiz dann Anklage gegen Mimmo Lucano aufgrund einer Reihe angeblich schwerwiegender Vergehen im Zusammenhang mit seinen Amtshandlungen und bei der Verwaltung von Projekten in der Gemeinde Riace. Sollte das vorläufige Urteil in diesem Sommer im Berufungsverfahren endgültig bestätigt werden, müsste Mimmo Lucano in das Gefängnis. Das Landgericht in Locri hat ihn in erster Instanz zu dreizehn Jahren und zwei Monaten Haft und zu einer Entschädigungszahlung von über fünfhunderttausend Euro verurteilt. Die Anklagepunkte und das Ausmaß der verhängten Strafe haben in der Politik, der öffentlichen Meinung und selbst unter Jurist/innen aber auch Intellektuellen, die für das Thema Recht und Integration besonders sensibel und informiert sind, heftige Kritik hervorgerufen. Costantino Ciervo kennt Mimmo Lucano seit 2013 und teilt seine Weltanschauung und Ethik und steht seiner Art, Politik vor Ort zu machen, sehr nah. Der Film, den er gedreht hat, ist in zehn Kapitel gegliedert. Durch den Wechsel von Landschaftsaufnahmen, Dialogen, poetischen Texten von Marco Mantello und Erri De Luca, umspielt von Hintergrundmusik, wird der Kontrast zwischen zwei konträren - gedachten und praktizierten - Modellen des menschlichen Zusammenlebens deutlich. Auf der einen Seite steht das Modell einer selektiven Kultur, die eine konsumorientierte Gesellschaft will, in der die Menschen nur an Verteidigung, Abgrenzung, ethnischer Reinheit sowie technischer und wirtschaftlicher Funktionalität interessiert sind; auf der anderen Seite steht ein offenes Modell, in dem Menschen mühsam versuchen, eine aufgeschlossene, kontaktfreudige, solidarische sowie ökologisch und menschlich nachhaltige Gesellschaft im Alltag (neu) zu gestalten. Von besonderer Bedeutung ist das abschließende Kapitel des Films, in dem die Geschichte von "Ciccio, Rosa und Toni" von Mimmo Lucano in einer berührenden Einfachheit erzählt wird. Sie bringt das Ziel seines menschlichen und politischen Handelns zum Ausdruck: den Letzten zu helfen. Die dramaturgische Reise endet in einer letzten Sequenz, die von einem scheinbaren Pessimismus zu einem "Optimismus des Gewissens" übergeht: das unumstößliche und konkrete Ziel, die zur Verlassenheit verurteilten Gebiete wiederzubeleben.

Berlin, 10.06.2024
Nach Fertigstellung des Films ist Mimmo Lucano nach einer weiteren Vertagung der Urteilsverkündigung vom 25. September 2023 freigesprochen worden.
Mit 190.000 Stimmen wurde er im Juni 2024 in das EU-Parlament gewählt und konnte sich auch als Bürgermeister von Riace erneut mit 46% der Stimmen gegen 2 Mitbewerber durchsetzen. Ein deutlicher Loyalitätsbeweis der Riaceser*innen. Eine langer Prozess, verbunden mit politischer Anklage, Verbannung, Verurteilung und Freispruch hat ein Ende gefunden. Der Versuch seitens rechtskonservativer und –radikaler Kräfte, ihn mundtot und handlungsunfähig zu machen, ist somit gescheitert.